yutao gao. pietà, nike
yutao gao setzt bei der entwicklung seiner arbeiten fotografische techniken in einem nicht klassischen sinne ein und bezieht sich dabei auf die geschichte der fotografie. er scannt historische postkarten und manipuliert den scan durch bewegung - ein „streicheln mit leuchtender hand“, bei dem sich vergangenheit und gegenwart verbinden.
„stein des damokles
die vordergrundobjekte befinden sich auf dem unteren teil des bildes. im oberen teil des hintergrundes erscheinen große steine in der dunkelheit. die vordergrundobjekte sind griechische skulpturen, die von postkarten gescannt werden. durch meinen subjektiven eingriff in das mechanische scannen gab ich diesen statuen die dynamik des wachstums. wenn unser blick die statue nach oben bewegt, fällt plötzlich eine menge riesiger steine vom himmel. es scheint, als ob unser schicksal plötzlich unsere innere kraft zum aufstieg kreuzt. das schicksal der götter, das schicksal des menschen ist eines der ewigen themen der griechischen philosophie, des dramas und der künste. das schicksal hängt wie das damoklesschwert über jedem haupt, dem können nicht einmal die götter entkommen. wir können dagegen kämpfen, doch im laufe der zeit gehen wir langsam auf unser endgültiges schicksal zu oder das schicksal wird plötzlich auf uns geschleudert. konfrontiert mit dem schicksal kämpfen wir immer zwischen widerstand und unterwerfung. dieser sinn für fatalismus und krise ist eines der gefühle, die ich in dieser serie vermitteln möchte.
in der geschichte des buddha gibt es eine bild: ein senfkorn birgt den sumeru berg. im buddhistischen kanon wird das senfkorn als das kleinste korn erwähnt, während der unvorstellbar hohe berg (auch meru genannt) den gesamten kosmos repräsentiert. die metapher bedeutet: man kann einen riesigen berg in ein senfkron packen, es passt. wenn ich den hintergrund erschaffen habe, verwende ich erzkörner. auf den gescannten bildern sehen sie wie die prächtigen und wechselnden nebel im universum aus. der scanner erlaubt mir, die details zu erfassen, die vom menschlichen auge übersehen werden. ich bin überrascht über eine so wunderbare verbindung zwischen mikro- und makrowelt. dies steht im einklang mit der buddha-metapher. die reihe von werken präsentiert ein thema des westlichen mythos, aber als ich das erz wählte, stieß ich auf weiter gehende assoziationen.
"der engel der geschichte muß so aussehen. er hat das antlitz der vergangenheit zugewendet. wo eine kette von begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige katastrophe, die unablässig trümmer auf trümmer häuft und sie ihm vor die füße schleudert. er möchte wohl verweilen, die toten wecken und das zerschlagene zusammenfügen. aber ein sturm weht vom paradiese her, der sich in seinen flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der engel sie nicht mehr schließen kann. dieser sturm treibt ihn unaufhaltsam in die zukunft, der er den rücken kehrt, während der trümmerhaufen vor ihm zum himmel wächst. das, was wir den fortschritt nennen, ist dieser sturm.“" walter benjamin "über den begriff der geschichte"
michelangelo
im vergleich zu den bisherigen arbeiten in der michelangelo-reihe "two and a half", die schwarzen hintergründe haben, erzeugte das bewegen auf scannerglas nun linien auf dem neuen bild. die farbe der linien sieht aus wie glasmalerei in einer mittelalterlichen kirche. da hier zeit und licht zusammenarbeiten, befreit sich das leben in der skulptur michelangelos wieder von der oberfläche. das leben hat unsere ära freigegeben.“ y. gao
FESTIVAL FÜR DIGITALE KUNST, MUSIK
UND GEGENWARTSKRITIK
SCREENSHOTS DIGITALER KULTUR:
PHÄNOMENE UND POSITIONEN, DIE
SICH UNTER DEM EINFLUSS DER
DIGITALISIERUNG IN UNSERER KULTUR
ENTWICKELN.
SCHIRMHERR: OBERBÜRGERMEISTER DR. STEPHAN KELLER